Wilhelm Schiefer
Vierundzwanzig Tagewerke
Dokumentation der Kunstaktion
“Wachsender Adventskalender“
in der                                                            Galerie im Rathaus Kaarst, Am Neumarkt 2, 41564 Kaarst
im Dezember 2006

 

Vorwort von Helmut Engels (Philosoph)

Zum zweiten Mal hat Wilhelm Schiefer einen großartigen Adventskalender geschaffen. Er besteht aus schwarzen Sägebildern, die der Künstler in Kaarst an den Fenstern des Atriums zwischen Bürger- und Rathaus - nicht ohne Hilfe seiner Frau - angebracht hat: Jeden Tag im Dezember gab es ein neues Bild, bis zum eindrucksvollen des 24. Tages. Der Öffentlichkeit war der Kalender nicht nur an Ort und Stelle zugänglich, sondern auch im Internet, in dem Interessierten zusätzlich die Möglichkeit geboten wurde, sich zu äußern, und in der „Westdeutschen Zeitung“, die täglich das aktuelle Bild einschließlich eines Kurzkommentars wiedergab. Die Idee, sich für den wachsenden Adventskalender Anregungen aus aktuellen Zeitungen und Zeitschriften, aus der Werbung oder aus Top-Nachrichten des Tages zu holen, hat Wilhelm Schiefer so realisiert, dass er Aktuelles nicht einfach abbildete, sondern es ins Allgemeine transformierte, indem er das Gegebene veränderte, ergänzte und durch neue Elemente kommentierte.

Vergleicht man den Kaarster Adventskalender mit dem in Neuss vorgestellten, so fällt zunächst der Unterschied in der ästhetischen Gestaltung auf. Während früher die bloße Silhouette, rein schwarz oder rein weiß, dominierte und fast ausnahmslos Plakatives in nur zwei Dimensionen gezeigt wurde, hat sich die Darstellungsweise differenziert. Wilhelm Schiefer macht in vielen Bildern nun auch Räumliches sichtbar, indem er das Spiel von Licht und Schatten aufgreift und so eine vorher nicht vorhandene Plastizität erreicht. Jetzt ist nicht nur die große Geste zu erkennen, vielmehr zeigen sich Details. Die Personen des Kalenders von 2005 waren gesichtslos, jetzt aber wird eine ausdrucksstarke Mimik deutlich. Man denke etwa an den Ausdruck von Triumph im Gesicht der Gefeierten ( 9. Tag) , an die missmutige, unwirsche Mimik des am Tropf Hängenden, der trotz seiner Krankheit weiter raucht (11. Tag) oder an den ernsten, konzentrierten Gesichtsausdruck des „Schachspielers“ (16. Tag). Einige der Tagewerke verbinden die zweidimensionale Silhouette mit der plastischen Gestaltung, wie die des 4. und 6. Tages, oder sie zeigen - anders als im Neusser Kalender - , was in einer realistischen Darstellung nicht sichtbar werden könnte: das, was innerhalb eines Körpers verborgen ist, wie Jona im Innern des großen Fisches oder das Ungeborene im Leib der jungen Frau. Beiden Kalendern ist gemeinsam die starke Konzentration auf das Wesentliche und die Reduktion auf Zeichenhaftes.

Auffällig im diesjährigen Kalender ist neben seiner formalen Gestaltung die intensivere Verrätselung. Wilhelm Schiefer besitzt ein hohes Maß an Findigkeit, wenn es gilt, Fehlspuren zu legen, mit seinen Suchbildern zu vexieren und uns, die wir doch so gut Bescheid wissen, ratlos zu machen. Schon die beiden ersten Bilder sind von einer Dunkelheit, die sich nur schwer oder gar nicht auflösen lässt. Und neben Werken, die unmittelbar zugänglich zu sein scheinen, gibt es immer wieder solche, die stutzen lassen, irritieren und sich gegen eine schnelle Deutung sperren. Vieles ist mehrdeutig, ambivalent, lässt sich so oder anders interpretieren.

Was will Wilhelm Schiefer mit seinen Rätselbildern, mit seinen Kryptogrammen? Die Vieldeutigkeit ist nicht Selbstzweck und dient auch nicht einfach der Unterhaltung. Vielmehr möchte der Künstler den Betrachter zur Besinnung bringen. Aber: wenn Wilhelm Schiefer an Besinnung denkt, denkt er nicht an Besinnlichkeit im üblichen Sinne, an Kerzenschein, Glöckchengeläut und sanfte Klänge vom Band. Besinnung bedeutet für ihn Nachdenklichkeit, Reflexion. Seine Bilder wollen uns nicht einlullen, in eine wohlige Stimmung versetzen. Sie rufen uns vielmehr zu: Schaut genau hin, nicht nur einmal, nicht nur zweimal, sondern mehrmals! Und sie rufen: Denkt nach, bleibt nicht beim erstbesten Gedanken hängen, sondern reflektiert, wendet eure eigenen Vorstellungen hin und her, seid kritisch gegenüber einem vorschnellen Urteil.

Andererseits sagte Wilhelm Schiefer: „Es ist im Sinne des Projekts, dass man spontan reagiert.“ Man könnte meinen, dass er sich hier selbst widerspricht; denn Spontaneität ist nur die Ausrede des Faulen, der sich nicht die Mühe macht, lange zu schauen und lange nachzudenken. Ich glaube aber, Wilhelm Schiefer wollte denen, die sich zum Schreiben entschlossen hatten, Mut machen und einem Perfektionismus vorbeugen, der nichts zustande bringt. Viele haben sich zu Recht ja auch Zeit gelassen, um ihren Kommentar zu formulieren und vorzutragen.

Einigen Kommentaren war zu entnehmen, dass man sich richtige Adventsbilder gewünscht hätte. In der Tat entsprechen die gezeigten Tagewerke nicht der Vorstellung, die man von einem auf die frohe Botschaft bezogenen Adventskalender hat. Allerdings widerspricht das Geschaffene keineswegs dem, worüber in der Zeit der Besinnung nachgedacht werden sollte. Der wachsende Adventskalender hat eine deutlich moralische Dimension, und es gibt eine Reihe von Themen, die den Betrachter existentiell betreffen und durchaus ins Religiöse reichen, dies allerdings jenseits einer wie auch immer gearteten Dogmatik. Der Reichtum der Themen ist bemerkenswert. Engel und Teufel, Arbeit und Fest, Alte und Junge, Politik und Showgeschäft, Angst und Geborgenheit, Tod und Geburt, Furcht und Hoffnung, Glamour und Not, Krankheit und Lebenslust, Gerechtigkeit und Aggressivität, Kälte und Wärme: all dies tritt dem Betrachter entgegen, ihn zum Deuten und Weiterdenken drängend. Bestimmte Motive werden erneut aufgegriffen und abgewandelt, wie etwa das Motiv der Hände, die zu den Wesensmerkmalen des Menschen gehören. Immer wieder fühlt sich der Betrachter zu Gedanken angeregt, die ins Allgemeine und Grundsätzliche, ja ins Existentielle gehen.

Wie gehaltvoll die Bilder sind, wie sehr sie sich eignen, Gedanken anzustoßen und Gefühle zu wecken, das zeigt sich an den vielen höchst eindrucksvollen Kommentaren, die den Kaarster Kalender zu einem Ganzen machen. In das von Christa Kolling umsichtig betreute Internet-Projekt wurden immerhin weit über zweihundert Beiträge gestellt. Es gibt da innige, gefühlsbetonte und verträumte Kommentare, andere sind eher analytisch und nüchtern begrifflich, wieder andere zeichnen sich durch Anschaulichkeit aus. Ihr Ton ist zuweilen feierlich, zuweilen auch polemisch oder sogar witzig. Es gibt kleine argumentierende Traktate, und es werden persönliche Erfahrungen und Erinnerungen an die Kindheit offen mitgeteilt. Manches hat den Charakter von Selbstgesprächen während der Betrachtung der Tagewerke. Es finden sich immer wieder Zitate aus der Bibel oder auch aus der traditionellen Lyrik. Manchmal ist es nur ein einziger Satz, der den Kommentar ausmacht, oder sogar nur eine unverbundene Reihung von Einzelwörtern. Es gibt Beiträge, die durchkomponiert sind wie moderne Gedichte, verblüffende metaphorische Wendungen beweisen literarische Qualität. Die Häufigkeit der Fragen und Frageketten entspricht der Problematik des Dargestellten. Und es ist ja auch wichtig, dem vorschnellen Urteil das insistierende Fragen vorzuziehen.

Dass Begriffe wie Ruhe, Gelassenheit, Geborgenheit, Frieden, innere Einkehr, Hoffnung, Vertrauen und Liebe eine besondere Rolle spielen, liegt in der Vorweihnachtszeit nahe. Aber es äußern sich hier keineswegs weltabgewandte oder gar weltfremde Introvertierte. Da ist die Rede vom Gasprom-Arbeiter, von der Offshore-Plattform zum Ölbohren, von Stammzellen- und Embryonenforschung, von Shareholder-Value und von Nichtraucher-Bahnhöfen. Die Mauer zwischen Palästina und Israel findet ebenso Erwähnung wie die Ausladung des Putin-Kritikers Kasparow aus einer Fernsehrunde oder die Namen Gabriele Pauli, Tony Blair und Mahmud Abbas. Ob Zeitbezug oder Blick ins Überzeitliche: Fast immer spürt man, dass es um die Sorge geht, auf humane Weise Mensch zu sein.

Das Bild des 24. Tages zeigt eine junge Frau, die ihr Kind erwartet. Offen bleibt, ob es sich um Maria oder um eine heutige junge Frau handelt. Sie ist nicht einfach schwanger, sie ist vielmehr - um es mit dem fast vergessenen alten Ausdruck zu sagen - guter Hoffnung. Dieses schöne Bild wird auch die versöhnlich stimmen, denen der Adventskalender insgesamt zu düster erschienen war.

Die hier vorliegende Sammlung der Kommentare einschließlich der Reproduktion aller Bilder wird nicht nur eine interessante Lektüre sein, wie Wilhelm Schiefer sagte, sondern sie wird spannend sein, sie wird zu Herzen gehen und sie wird den Blick öffnen für die Vielfalt menschlichen Denkens und Fühlens.

Dank sei Wilhelm Schiefer für seine von ihm so bezeichnete Plackerei - die er als seinen unentgeltlichen Beitrag zum Gemeinwohl sieht - und dafür, dass er uns auf so ungewöhnliche Weise zu denken gegeben hat.

 

zurück

 
© Wilhelm Schiefer (2002)